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Die große Sauce-Lüge: Warum der Orient ohne Saucen auskam bisher

 Die große Sauce-Lüge: Warum der Orient ohne Saucen auskam bisher

Stellen wir uns eine klassische Küchenszene vor: Ein französischer Koch schwenkt elegant eine Kasserolle, in der eine butterglänzende Sauce köchelt – das Ergebnis akribischer Reduktion und raffinierter Emulsion. Nun teleportieren wir uns in eine traditionelle orientalische Küche. Statt Saucieren mit flüssigen Kompositionen finden wir hier kräftige Schmorgerichte, würziges Fleisch und aromatische Gewürzkompositionen. Doch eines fehlt: die klassische Sauce.

Westliche Küchen, besonders die französische, haben Saucen zur Königsdisziplin erhoben. Eine Sauce ist dort nicht nur eine geschmackliche Ergänzung, sondern oft das Herzstück des Gerichts. Die Idee: Ein Hauptbestandteil – sei es Fleisch oder Gemüse – wird mit einer separat zubereiteten Flüssigkeit veredelt, die erst am Ende über das Gericht kommt.

Und genau hier liegt der fundamentale Unterschied zur orientalischen, türkischen und levantinischen Küche. Während Saucen in Europa oft als eigenständige Elemente betrachtet werden, die eine Speise zusammenhalten oder geschmacklich abrunden, wird im Orient von Anfang an mit Aromen gekocht. Die Zutaten werden so verarbeitet, dass eine Sauce schlicht überflüssig wird. Fleisch, Gemüse und Hülsenfrüchte nehmen bereits während des Garens alle Aromen auf – das Geheimnis liegt in den Gewürzen und der Art der Zubereitung, nicht in einer nachträglich hinzugefügten Flüssigkeit.

Was als Sauce missverstanden wird

Natürlich gibt es auch in der türkischen und levantinischen Küche flüssige oder cremige Bestandteile, doch diese sind keine Saucen im klassischen westlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um Bestandteile eines Gerichts oder um Dips und Beilagen, die begleitend gereicht werden.

  • Joghurt mit Knoblauch: Oft zu Kebabs serviert, aber niemals wie eine Sauce über das Fleisch gegossen. Vielmehr dient er als frische, kühlende Beilage.

  • Geschmolzene Butter mit Gewürzen: Etwa bei Manti (türkische Teigtaschen) mit Paprikabutter – aber auch hier wird die Butter eher untergehoben als übergossen.

  • Tahini (Sesampaste): Wird gerne als Dip oder Dressing genutzt, aber nicht wie eine Sauce über Speisen geschüttet.

  • Tomaten- oder Paprikamark: Wird oft in Gerichten mitgeschmort, aber nicht nachträglich als eigenständige Sauce auf das Essen gegeben.

  • Cacık: Das türkische Pendant zu Tzatziki wird oft als Sauce missverstanden. Doch ursprünglich war Cacık eine viel flüssigere Speise, die mit Wasser verdünnt wurde. Gerade in heißen Sommermonaten diente es als erfrischendes, leichtes Gericht, das mit Gurken und Kräutern angereichert wurde – nicht als dicker Dip, wie es heute oft in Europa serviert wird. Besonders in ärmeren Haushalten wurde Cacık traditionell mit noch mehr Wasser oder Buttermilch verdünnt, um die Portionen zu vergrößern und das Gericht erschwinglicher zu machen. So konnte es als sättigende Mahlzeit für die ganze Familie dienen, ohne viel kosten zu müssen. In dieser Form war es nicht nur eine köstliche Beilage, sondern auch ein praktisches und nahrhaftes Gericht, das an heißen Tagen für Abkühlung sorgte.

Diese Missverständnisse sind oft das Ergebnis von kulinarischer Anpassung für den westlichen Gaumen. Denn eines muss man klar sagen: Die "Saucen", die wir in Europa mit Döner oder anderen orientalischen Speisen assoziieren, sind eine moderne Erfindung – und haben mit traditioneller orientalischer Küche wenig zu tun.

Türkische Küche kennt keine Saucen: Dips sind keine Saucen

Die europäische Sauce-Obsession – und ihre Folgen

Die westliche Vorliebe für Saucen ist tief kulturell verwurzelt. Während in der orientalischen Küche Gewürze und Garmethoden den Geschmack bestimmen, wird in Europa oft eine Sauce als tragende Aromakomponente gesehen. Kein Wunder also, dass der Döner, als er in den 1970er-Jahren nach Deutschland kam, mit Joghurt-, Knoblauch- und Kräutersaucen ergänzt wurde.

Dieses „Saucing“ hat jedoch auch den Effekt, dass der eigentliche Geschmack des Fleisches oder der Zutaten in den Hintergrund tritt. Ein perfekt gewürztes, langsam gegartes Lamm braucht keine Knoblauchsoße – im Gegenteil, es würde den fein abgestimmten Geschmack überdecken. In der traditionellen türkischen und levantinischen Küche geht es darum, die natürlichen Aromen hervorzuheben, nicht sie in einer cremigen Masse zu ertränken.

Und nun?

Wer sich auf eine kulinarische Entdeckungsreise begibt, sollte darauf achten, ob er wirklich eine authentische Erfahrung macht oder eine europäisierte Version eines Gerichts serviert bekommt. Das bedeutet nicht, dass Saucen per se schlecht sind – sie haben in der französischen oder italienischen Küche durchaus ihre Berechtigung. Aber in der orientalischen Welt sind sie schlicht kein traditionelles Element.

Wenn du bei deinem Dönermann des Vertrauens demnächst also wieder Saucen bekommst, dann ist das nichts anderes als das, was wir in der Küche „Fusion“ nennen. Diese Art des Essens gab es traditionell nicht in der Türkei oder im Orient – also haben geschäftstüchtige türkische Döner-Buden sie adaptiert, um den Geschmack der Europäer zu treffen. Besonders in Deutschland, dem Land der Saucen, wäre ein Gericht ohne die obligatorische Soße fast unvorstellbar. Die Deutschen lieben Saucen – und clevere Gastronomen haben das schnell erkannt. Aber wer die echte orientalische Küche erleben will, sollte sich trauen: Weg mit der Soße – und ran an den puren Geschmack!