Zwischen Rakı und Rhapsodie – Die Meyhane als Herz der türkischen Geselligkeit

In Istanbul riecht es nach Geschichte. Nicht nach musealer, toter Geschichte, sondern nach atmender, lebendiger Kultur. Wer sie wirklich erleben will, macht nicht bei Moscheen, Märkten oder modernen Rooftop-Bars halt – sondern setzt sich an einen Tisch in einer Meyhane. Der Begriff Meyhane stammt ursprünglich aus dem Persischen: „mey“ bedeutet Wein, „hane“ Haus. Ein Haus des Weins – aber das trifft es nicht. Denn wer denkt, es ginge in Meyhanes bloß ums Trinken, versteht weder die Kultur noch die Menschen, die sie geschaffen haben. Eine Meyhane ist weder Kneipe noch Taverne, kein Restaurant, keine Bühne – und gleichzeitig alles davon.
Wo das Glas zum Medium wird Die Grundformel ist einfach: Rakı auf dem Tisch, kalte und warme Meze außenrum, ein paar Musiker mit Saiteninstrumenten, Gesang, manchmal Tränen. Der Abend beginnt ruhig. Gläser werden gefüllt, Blicke ausgetauscht, Brot gebrochen. In Deutschland könnte man versucht sein, Parallelen zu einer klassischen Weinstube zu ziehen, aber der Vergleich hinkt. Hier wird nicht nur genossen, hier wird kommuniziert. Die Meyhane ist kein Ort des Konsums, sondern des Ausdrucks. Sie ist ein Raum, in dem Worte genauso fließen wie der Anisschnaps. In klassischen Meyhanes wie dem legendären Refik in Beyoğlu, das 1954 eröffnet wurde, wurden Generationen von Intellektuellen, Poeten und Musikern geformt. Es war kein Zufall, dass Persönlichkeiten wie der Dichter Can Yücel, der Künstler Bedri Rahmi Eyüboğlu oder der Komponist Zülfü Livaneli hier Stammgäste waren. Es war ihr zweites Wohnzimmer, ihr Rückzugsort und zugleich ihr Podium. Inmitten von Rauch, Glas und Klang wurde Politik gemacht, Poesie geboren, Schmerz verarbeitet.
Die Meyhane als Karriereleiter Viele, die heute Stars der türkischen Musikszene sind oder waren, haben ihre Stimmen in einer Meyhane gefunden. Die Sängerin Sezen Aksu, oft als „Stimme der Nation“ betitelt, trat früh in solchen Lokalen auf, um ihre Musik an Menschen zu bringen, die wirklich hinhören. Hier werden Künstler nicht entdeckt, sondern bestätigt. Das Publikum ist kritisch, aber herzlich. Wer in einer echten Meyhane bestehen kann, besteht überall. Auch der Oud-Virtuose Yorgo Bacanos begann hier. Er spielte in den 1940er Jahren in Istanbuls angesagtesten Lokalen – nicht auf großen Bühnen, sondern direkt an den Tischen. Musiker wie er prägten den typischen Sound der Meyhane: improvisiert, emotional, nie gleich. Kein Playback, keine Kulisse – nur die direkte Verbindung zwischen Herz und Ohr.

Die Musik in einer Meyhane ist keine Hintergrundbeschallung. Sie ist organischer Bestandteil des Abends. In Liedern wie „Hicaz Mandıra“ oder „İstanbul Türküsü“ steckt mehr Melancholie, als ein ganzes Popalbum vermitteln könnte. Oft stimmen die Gäste leise mit ein, singen, schweigen, stoßen an.
Politisches Pflaster mit viel Gefühl Meyhanes waren auch immer politisch – manchmal explizit, oft subtil. Während der Militärputsche in der Türkei suchten viele Schriftsteller und Künstler Schutz in der Anonymität dieser Lokale. Was auf den ersten Blick wie ein harmloser Abend mit Alkohol wirkte, war oft Tarnung für Diskussionen, die anderswo gefährlich gewesen wären. Hier sprach man über Zensur, über Gewalt, über Freiheit. Und es wurde nicht nur gesprochen: In den 70ern und 80ern wurden viele regimekritische Gedichte und Lieder in diesen Räumen erstmals öffentlich vorgetragen. Die Tische der Meyhanes waren Schreibmaschinen ohne Papier.
Der Unterschied zu deutschen Bars Eine Meyhane mit einer deutschen Bar zu vergleichen, ist wie der Versuch, einen Roman mit einem Fahrplan gleichzusetzen. Deutsche Bars, mögen sie charmant, cool oder altmodisch sein, bleiben meistens neutral. Man bestellt, man trinkt, man zahlt, man geht. Gespräche entstehen, ja – aber oft bleiben sie an der Oberfläche. In einer Meyhane dagegen wird nichts gespielt. Dort wird erlebt. Der Abend ist eine Dramaturgie. Er beginnt mit stiller Erwartung, steigert sich über Melancholie, driftet manchmal in Euphorie und endet im Schweigen – oder in gemeinsamem Gesang. Es gibt keine Dresscodes, keine VIP-Tische, keine Selbstinszenierung. Es gibt nur Nähe.
Orte, die mehr sind als Räume Heute gibt es immer weniger authentische Meyhanes. Der Tourismus, die Verdrängung durch moderne Gastronomie, gesetzliche Einschränkungen im Alkoholverkauf – all das macht den traditionellen Lokalen zu schaffen. Und doch: Es gibt sie noch. Orte wie das Karaköy Gümrük, das Asmalı Cavit oder das İnciraltı Meyhanesi leben weiter. In ihnen sitzen junge Künstler neben Rentnern, Touristinnen neben Einheimischen. Und wenn die Musik erklingt, gibt es keine Unterschiede mehr.
Wo Sprache versagt, singt die Meyhane Man kann eine Meyhane nicht erklären, ohne sie erlebt zu haben. Sie ist keine bloße Einrichtung, sondern eine Haltung. Eine Art, sich dem Leben zu nähern – mit Zeit, Gefühl und Offenheit. Wer Istanbul verstehen will, beginnt nicht mit dem Topkapı-Palast. Sondern mit einem Tisch, einem Glas Rakı, einem Lied, das langsam die Kehle hinabrinnt. Sie ist keine Bar. Sie ist keine Bühne. Sie ist ein Raum, in dem Menschen wieder zu Menschen werden. Und genau deshalb ist sie unersetzlich.
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