Die Türkei sorgt sich wieder um „jugendgefährdende Inhalte“ und „Verletzung familiärer Werte“
„Perperişan“ gesperrt: Mabel Matiz, Zensur und die Widersprüche der türkischen Politik
Die Nachricht schlug ein wie ein Paukenschlag: Mabel Matiz’ Song „Perperişan“ ist in der Türkei gesperrt. Kein YouTube, kein Spotify, kein Apple Music. Der Hit, der längst zum Symbol einer modernen, urbanen Popkultur geworden ist, steht plötzlich hinter einer virtuellen Schranke. Verantwortlich ist das Ministerium für Familie und Soziale Dienste, das beim Gericht in Ankara beantragt hat, das Lied zu blockieren. Offiziell lautet die Begründung: Schutz der Jugend, Wahrung der Familie, Aufrechterhaltung öffentlicher Moral. Doch der Fall ist mehr als nur ein juristisches Detail. Er wirft ein grelles Licht auf die wachsende Kontrolle der Kultur durch den Staat – und auf die inneren Widersprüche der Politik unter Präsident Erdoğan.
„Perperişan“ zwischen Poesie und Zensur
Wer die Lyrics von „Perperişan“ kennt, weiß, dass Matiz nicht platt provoziert. Die Worte sind metaphorisch, inspiriert von Volksliteratur, poetischer Tradition und persönlicher Erfahrung. Es geht um Sehnsucht, Zerrissenheit und Identität – Themen, die universell sind. Doch in der Türkei reicht schon die Interpretation als „jugendgefährdend“ oder „moralisch bedenklich“, um juristische Konsequenzen nach sich zu ziehen. Mabel Matiz musste vor Gericht erscheinen, seine Intention erklären und steht nun unter strafrechtlicher Beobachtung. Artikel 8/A des türkischen Internetgesetzes 5651 ermöglicht die Sperrung solcher Inhalte.
Die Folgen sind nicht nur symbolisch: Internationale Auftritte stehen auf der Kippe, die künstlerische Freiheit wird unterbrochen. Gleichzeitig zeigt der Fall, dass Metaphern, Poesie und Popmusik längst politische Relevanz besitzen – denn jeder Text wird nach moralischem Maßstab geprüft, der von der Regierung definiert wird.
Politische Widersprüche: Kinderehen und moralische Überwachung
Hier wird die Situation absurd. Auf der einen Seite werden Künstler wie Mabel Matiz verfolgt, auf der anderen Seite toleriert die Regierung Entscheidungen, die fundamentale Rechte verletzen könnten. Ein Beispiel: 2017 erlaubte ein Gesetz muslimischen Geistlichen, zivile Eheschließungen vorzunehmen. Kritiker*innen warnten, dass dies Kinderehen begünstigen könne. Historische Dokumente des Direktorats für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) legten das Mindestalter für Mädchen unter islamischem Recht auf neun Jahre fest – was international Empörung auslöste.
Kulturminister Mahir Ünal, der die Werte der Gesellschaft offiziell schützen soll, steht damit in einem Widerspruch, der kaum zu übersehen ist. Während er moralische Maßstäbe für Musik und Kunst anlegt, werden Entscheidungen toleriert, die Kinder und Jugendliche tatsächlich gefährden könnten. Wer über Metaphern singt, wird verfolgt; wer Gesetze ermöglicht, die das Wohl von Kindern infrage stellen, gilt als moralisch korrekt.
Bestes türkisches Catering
Die Kontrolle über Kultur: Filme, Serien und Musik
Mabel Matiz ist nicht der einzige, der unter staatlicher Kontrolle leidet. In den letzten Jahren wurden Serien, Filme, Theateraufführungen und Musikvideos zunehmend zensiert oder gar verboten. Inhalte, die als zu freizügig oder „gegen traditionelle Werte“ eingestuft werden, verschwinden aus dem öffentlichen Raum. Streaming-Plattformen müssen Inhalte prüfen, lokale Veranstalter*innen riskieren Strafen.
Die Botschaft ist klar: Kultur wird nicht nur reguliert, sie wird politisch gesteuert. Es geht nicht um Jugendschutz allein, sondern um die Durchsetzung eines konservativen Wertesystems. Künstler*innen, die sich diesem System entziehen, geraten in Konflikt mit der Justiz. Der Fall „Perperişan“ zeigt, wie klein der Spielraum für kreative Freiheit geworden ist.
Mabel Matiz als Symbolfigur
Für viele junge Türkinnen und Türken ist Matiz nicht nur Musiker. Er steht für eine künstlerische Freiheit, die bedroht ist. Seine Metaphern sind harmlos, seine Themen universell – und gerade deshalb gefährlich für ein System, das Kultur auf Moral und politische Opportunität prüft. Die Reaktionen auf Social Media sind eindeutig: Solidarität, Protest, Diskussionen. Der Künstler wird zur Galionsfigur einer Bewegung, die zeigt, wie stark Kultur und Politik inzwischen verflochten sind.
Schlussfolgerung: Ein Land zwischen Kontrolle und Widerspruch
„Perperişan“ ist ein Brennglas, das die Widersprüche der türkischen Politik sichtbar macht: Kontrolle über Kultur auf der einen Seite, Toleranz für Entscheidungen, die fundamentale Rechte gefährden, auf der anderen. Die Regierung zeigt eine selektive Moral, die Künstler*innen bestraft, während sie Gesetze toleriert, die Kinderrechte und Frauenrechte infrage stellen.
Für Beobachter*innen wird deutlich, dass die Glaubwürdigkeit der politischen Rhetorik stark angezweifelt werden muss. Mabel Matiz ist nur ein Beispiel, aber ein symbolträchtiges: Wer in der Türkei Metaphern singt, riskiert Strafverfolgung, wer das System für Kinderrechte unterminiert, gilt als moralisch integer. Diese Inkohärenz ist kein Detail, sondern ein zentraler Teil der aktuellen gesellschaftlichen Realität.
Folge uns