Meze & Raki: Die Kunst des langsamen Genusses

Es gibt eine unausgesprochene Regel in der Türkei: Raki trinkt man nicht allein. Und man trinkt ihn nicht ohne Meze. Eine Flasche auf dem Tisch ist nur der Anfang – der wahre Genuss beginnt mit den kleinen, liebevoll zubereiteten Speisen, die sich nach und nach auf dem Tisch versammeln. Es ist ein Ritual, ein Spiel mit Zeit und Geschmack, ein stilles Einverständnis zwischen Freunden: Heute lassen wir uns nicht hetzen.
Ein Tisch, der nie leer wird
Das Meyhane-Erlebnis beginnt nicht mit der Bestellung von Raki, sondern mit dem ersten Teller Meze. Das Konzept ist einfach: viele kleine Speisen, serviert in Etappen, damit das Gespräch nicht unterbrochen wird. Niemand isst hastig, niemand trinkt schnell.
Der erste Gang ist meist kalt: Frische Ezme (eine scharfe Tomaten-Walnuss-Paste), samtiger Haydari (Joghurt mit Knoblauch und Kräutern), eingelegte Gemüse, marinierte Meeresfrüchte. Dazu kommt oft ein Teller Beyaz Peynir – milder, weißer Käse, der perfekt mit Raki harmoniert.
Dann folgt die zweite Runde: gegrillte Oktopusarme, frittierte Zucchiniblüten, gebratene Auberginen in Tomatensoße. Immer wieder kleine Bissen, immer wieder ein Schluck Raki. Die Gespräche drehen sich um alles und nichts – es ist der Moment, der zählt.
Und irgendwann kommt das Hauptgericht, das eigentlich keines ist. Vielleicht Levrek Izgara, ein gegrillter Wolfsbarsch, der in der Mitte des Tisches landet. Oder winzige Köfte, in die man mit den Fingern greift. Alles wird geteilt, nichts gehört nur einem selbst.

Warum man niemals aufstehen sollte
Es gibt einen alten Raki-Spruch: „Wer aufsteht, verliert.“ Denn sobald man sich erhebt, schießt der Raki in den Kopf. Bleibt man sitzen, bleibt man Herr der Lage – oder zumindest tut man so. Deshalb ziehen sich diese Abende in die Länge. Es gibt keine Eile, keine Verpflichtung. Nur das Klirren der Gläser, das sanfte Rauschen des Meeres in den Küsten-Meyhanes oder das gedämpfte Stimmengewirr der alten Istanbuler Tavernen.
Zwischendurch gießt jemand nach. Immer in kleinen Mengen. Der Raki wird nie auf Ex getrunken, er wird zelebriert. Manchmal wird er mit Wasser verdünnt, manchmal mit ein paar Tropfen Eis. Doch eines bleibt gleich: Das Glas wird nicht allein gelassen.
Die letzte Runde – und dann doch nicht
Nach Stunden des Essens, Trinkens und Erzählens nähert sich der Abend seinem Ende. Vielleicht gibt es noch ein Glas. Vielleicht noch eine kleine Meze. Niemand sagt „letzte Runde“ – das wäre zu endgültig.
Dann, irgendwann, kommt das Dessert. Keine schweren Kuchen, keine üppigen Torten – stattdessen saftige Melonen, gesalzene Mandeln, vielleicht ein kleines Stück Helva. Ein sanfter Abschluss, ein Zeichen, dass die Nacht ausklingt.
Und dann stehen sie doch auf, die ersten. Ein wenig wackelig, ein wenig glückselig. Ein letzter Blick auf den Tisch: halb leere Gläser, Krümel auf den Tellern, der Duft von Anis in der Luft.
Draußen, in der kühlen Nachtluft, bleibt ein Gefühl zurück. Nicht nur der Raki im Kopf, sondern das Wissen: Es war ein guter Abend.
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