Eine Ode an die kurioseste Brühe der Welt: Kuttelsuppe (İşkembe Çorbası)
Istanbul, 4 Uhr morgens. Die Straßen glänzen feucht vom Tau, irgendwo brummt noch ein letzter Bass aus einer schief stehenden Clubtür. Ein junger Mann mit schlaffen Lidern und einem Smartphone voller peinlicher Sprachnachrichten torkelt um eine Ecke – auf der Suche nach Erlösung. Keine Apotheke, kein Espresso, kein kalter Waschlappen dieser Welt kann ihm helfen. Nur eines: İşkembe Çorbası. Die Kuttelsuppe. Der stille Held der türkischen Nachtgastronomie. Oder wie es ein Taxifahrer einmal poetisch formulierte: „Bruder, wer nach Raki nicht Kuttel isst, verliert den Morgen.“
Von Mägen und Mythen
Kuttelsuppe ist das kulinarische Äquivalent eines Reality-Checks. Sie besteht im Wesentlichen aus gesäubertem Rindermagen, der lange gekocht wird, bis er weich ist – und dann mit Knoblauch, Essig und Zitronensaft zu einer dampfenden, säuerlich duftenden Suppe wird. Für viele klingt das nach einer Mutprobe, für andere nach Kindheitserinnerungen. Für eingefleischte Fans ist sie eine Art kulinarischer Bußgang – ein bisschen wie Ayahuasca, nur in Suppenform und ohne Dschungel-Schamane.
In der Türkei hat die İşkembe Çorbası fast sakralen Status. Sie ist nicht einfach nur Nahrung. Sie ist ein Ritual. Ein Statement. Und vor allem: eine Therapie.
Denn was Aspirin dem Deutschen, ist die Kuttelsuppe dem Türken. Vor allem nach langen Nächten mit dem einen Glas zu viel – oder dem zehnten. Und auch wenn die Wissenschaft zur Wirkung der Suppe beim Kater schwieg, bevor Google Scholar überhaupt schreiben konnte, war sich die anatolische Oma schon sicher: „İç, geçer.“ Trink, dann geht’s.
Die Chemie des Trosts
Was steckt nun tatsächlich drin im Wundertrank? Neben Eiweiß, Gelatine und Mineralstoffen bietet die Kuttelsuppe vor allem eines: Flüssigkeit, Salz und Wärme – das Dreigestirn jeder Anti-Kater-Formel. Der Essig soll den Magen beruhigen, der Knoblauch desinfizieren (im Zweifel auch das soziale Umfeld) und die Zitrone… nun ja, die bringt die Geschmacksknospen wieder auf Betriebstemperatur.
Und dann ist da noch der Placeboeffekt – oder besser: der Kuttlacebo. Der unerschütterliche Glaube daran, dass man nach einem Teller dieser Suppe wieder aufrecht gehen kann. Das ist mindestens so wirksam wie jedes Elektrolytpulver mit fancy Marketing.
Kulturgeschmack mit Ecken und Innereien
Natürlich spaltet die Kuttelsuppe die Geister – und die Mägen. Was dem einen heilig ist, ist dem anderen zuwider. Auf Tripadvisor liest man entweder „Beste Suppe meines Lebens“ oder „Ich habe geweint – aber nicht vor Freude“. Dazwischen gibt’s wenig.
Aber genau darin liegt auch ihr Reiz: Kuttelsuppe ist kein Food-Trend, der auf TikTok durch die Decke geht, weil jemand Goldflocken hineingestreut hat. Sie ist kein Influencer-Essen. Sie ist der Anti-Avocado-Toast. Roh. Archaisch. Ehrlich.
Sie erinnert daran, dass Essen nicht immer hübsch sein muss, um gut zu tun. Dass Genuss auch mal nach Herausforderung schmecken darf. Und dass der menschliche Magen offenbar nicht nur für Liebe, sondern auch für Rindermagen empfänglich ist.
Mitternachtssuppe mit Geschichte
Bestes türkisches Catering
Die Wurzeln der Kuttelsuppe reichen weit zurück – manche sagen, bis in byzantinische Zeiten. Damals wie heute war sie das, was die Franzosen bouillon nennen: ein Kraftspender. Und mit der osmanischen Küche verbreitete sie sich in alle Richtungen – vom Balkan bis nach Ägypten, von Anatolien bis an die Berliner Spätikassen.
In der Türkei gibt es sogar spezialisierte Suppenrestaurants – Çorbacıs – die sich ganz der nächtlichen Löffelspende widmen. Manche davon haben 24 Stunden geöffnet, mit einer Speisekarte, die klingt wie das Protokoll einer archäologischen Ausgrabung: Fußsuppe (paça), Gehirnsuppe (beyin), Zungensuppe (dil). Doch der Star bleibt: işkembe.
Und ja, diese Lokale haben ihren ganz eigenen Charme. Meist steril beleuchtet, oft mit Linoleumboden, immer mit einem Glas Essig auf dem Tisch. Kein Ort für Date-Nights, aber ideal für Lebenskrisen.
Internationaler Innereien-Kult
Wer jetzt glaubt, die Türken seien allein mit ihrer Liebe zur Kuttelsuppe, irrt gewaltig. Die Griechen haben ihre Patsás, die Bulgaren ihre Shkembe Chorba, die Rumänen ihre Ciorbă de burtă. Sogar in Mexiko gibt’s Menudo, das dem Ganzen verdächtig ähnlich ist. Die Welt hat eben mehr gemeinsam, als man denkt – insbesondere, wenn’s um Alkoholkater und Mageninhalt geht.
Und was, wenn…?
Was wäre, wenn Kuttelsuppe eines Tages hip wird? Wenn Foodtrucks in Berlin-Neukölln „Kuttel Bowls“ mit fermentiertem Kimchi servieren? Wenn Stars wie Dua Lipa in Interviews bekennen, dass ihre Haut nur dank täglicher işkembe so strahlt? Würden wir dann alle unsere Skepsis über Bord werfen und beherzt löffeln?
Vielleicht. Vielleicht aber bleibt die Kuttelsuppe das, was sie ist: Ein unterschätzter Schatz der Nachtgastronomie, der nie ein Trend sein muss, weil er längst ein Klassiker ist. Eine Suppe, die nichts beschönigt, aber alles gibt.
Und wenn man das nächste Mal mit pochendem Schädel in der Morgendämmerung steht und sich fragt, was noch retten kann – dann weiß man es: Ein Löffel Mut. Ein Hauch Essig. Und eine dampfende Schale Kuttel.
Funfact zum Schluss:
In Istanbul kann man sich die Kuttelsuppe seit kurzem auch per App nach Hause bestellen – samt Zitronenscheibe und Plastikessigflasche. Fortschritt hat viele Gesichter. Manchmal riechen sie ein bisschen nach Rindermagen.
Folge uns