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Die wahre Geschichte von Lahmacun und Pide

 Die wahre Geschichte von Lahmacun und Pide

Der Lahmacun und die Pide prägen die türkische Küche seit Jahrhunderten. Beide stammen aus ähnlichen Wurzeln, sind aber grundverschieden in Haltung, Struktur und Zubereitung. Der eine Teig liegt hauchdünn auf dem Stein, der andere hebt sich weich und duftend – zwei Wege, die zeigen, wie ein Grundrezept in der Türkei zu Vielfalt wurde.

Lahmacun – Der dünne Klassiker mit jahrhundertealter Tradition

Der Name Lahmacun geht auf das arabische lahm bi ʿajīn zurück – „Fleisch mit Teig“. Über die Levante gelangte das Gericht in die südöstliche Türkei, vor allem nach Gaziantep, Şanlıurfa und Hatay. Bereits im 13. Jahrhundert beschrieb der syrische Chronist Ibn al-Adim Fladen mit Fleischbelag, die dem modernen Lahmacun ähneln.

Lahmacun wird traditionell ohne Hefe hergestellt. Der Teig besteht aus Weizenmehl, Wasser und Salz – schlicht, aber präzise im Verhältnis. Durch das Fehlen der Hefe bleibt er flach, elastisch und lässt sich hauchdünn ausrollen, fast durchsichtig. Diese Struktur ist entscheidend: Sie sorgt dafür, dass der Boden beim Backen knusprig wird, ohne auszutrocknen, während der Belag fest haftet.

Der Belag besteht aus fein gehacktem Lamm- oder Rindfleisch, Zwiebeln, Tomatenmark und frischen Kräutern wie Petersilie. Entscheidend ist die Textur der Mischung – sie darf weder zu feucht noch zu grob sein. Im traditionellen Steinofen, dem Fırın, wird Lahmacun bei hoher, gleichmäßiger Hitze gebacken, meist direkt auf dem heißen Stein. Der Teig wölbt sich leicht, während die Kanten rösten und die Aromen des Fleisches in den Boden ziehen.

In anatolischen Städten waren diese Fırınlar mehr als Backstätten – sie waren soziale Orte. Familien bereiteten den Belag zu und überließen das Backen dem erfahrenen Bäcker. Gespräche, Warten und das Teilen der fertigen Fladen gehörten zur Routine. Erst mit dem Einzug der Haushaltsöfen in den 1950er-Jahren wanderte der Lahmacun in private Küchen. Heute existieren zahlreiche regionale Abwandlungen – von scharf gewürzt in Gaziantep bis milder und kräuterbetonter in Istanbul.

Pide – Das schiffchenförmige Brot der Vielfalt

Pide wirkt im Vergleich zu Lahmacun fast monumental. Der Teig enthält Hefe und wird zum Gehen gebracht, bis er eine luftige, weiche Struktur erhält. Dadurch entsteht eine Konsistenz, die an Brot erinnert, mit goldbrauner Kruste und weicher Krume. Beim Formen wird der Teig länglich ausgerollt und an den Rändern leicht hochgezogen – das charakteristische Schiffchen. Diese Form hält nicht nur den Belag, sondern sorgt auch dafür, dass die Ränder kräftig aufgehen und unterschiedliche Texturen entstehen: außen knusprig, innen weich.

Ursprünge und Entwicklung lassen sich in verschiedenen Regionen Anatoliens finden. Pide wurde als Gericht der Verwertung ebenso geschätzt wie als Handwerksprodukt: Reste von Fleisch, Käse oder Gemüse fanden auf dem Hefeteig ihren Platz. In großen Steinöfen konnten mehrere Schiffchen nebeneinander gebacken werden. So entstanden Varianten wie Etli Pide (Hackfleisch), Sucuklu Pide (mit türkischer Knoblauchwurst) oder Peynirli Pide (mit Käse). Die Temperatur im Ofen und die Dicke des Teigs entschieden darüber, ob der Boden knusprig oder weich blieb – ein Detail, das viele Familien bis heute pflegen.

Während Lahmacun klaren Regeln folgt – dünn, scharf, unverändert –, ist Pide ein Feld für Experiment. Moderne Varianten kombinieren Spinat, Ei, Pilze oder verschiedene Käsesorten. In traditionellen Bäckereien kann man beobachten, wie der Teig ruht, wie er vorsichtig geformt und mit dem flachen Schieber in den Ofen gelegt wird. Das Schiffchen bläht sich auf, die Ränder nehmen Farbe an, und kurz vor dem Ende der Backzeit werden oft Butterflocken darauf verteilt – ein Moment, in dem aus Brot Handwerk wird.

Beide Fladen spiegeln Geschichte und Geografie. Im Süden und Osten sind die Gewürze kräftig: Chili, Kreuzkümmel, Paprikapaste. Im Westen treten mildere Aromen hervor, und Käse bekommt mehr Gewicht. Die Backmethoden orientieren sich am Lebensumfeld – gemeinschaftlich im Fırın, individuell zu Hause. In der Türkei verbinden Lahmacun und Pide Generationen. Sie sind Teil von Alltagsküche, Ramadan-Tafeln und spontanen Nachbarschaftsessen. Ob auf der Straße oder am Familientisch – die Teige erzählen von Geduld, von Temperaturgefühl, vom Wissen um das richtige Maß an Feuchtigkeit und Hitze.

Der Lahmacun bleibt zurückhaltend, präzise, ohne Triebmittel – schnörkellos und geschmacksfokussiert. Die Pide entwickelt sich aus gleichem Ursprung zu einem weichen, gehaltvollen Brot, das Raum für Vielfalt schafft, ähnlich der italienischen Pizza. Beide gehören zu den fundierten Gerichten Anatoliens, getragen von Tradition, handwerklichem Verständnis und gelebter Alltagskunst.