Die Demokratie lebt – zumindest nördlich des Polarkreises
Du hast genug von "Der beste Döner Berlins", "Wo der Kaffee wie in Rom schmeckt" oder "Die zehn spannendsten Food-Trends 2025"? Gut. Dann lass uns heute mal nicht darüber sprechen, wo der beste Espresso serviert wird – sondern wo das politische Betriebsklima so bekömmlich ist, dass selbst der Kantinenstreit über Bio-Milch oder Haferdrink für landesweite Debatten reicht.
Willkommen in Norwegen – der Beyoncé unter den Demokratien: makellos, bewundert, souverän, mit einer Selbstverständlichkeit, die fast unheimlich wirkt.
Die Demokratie lebt – zumindest nördlich des Polarkreises
Demokratie ist wie WLAN: Du merkst erst, wie wichtig sie ist, wenn sie plötzlich weg ist – oder nur noch blinkt. Während andernorts Verfassungen wie alte Turnbeutel behandelt werden – einst ordentlich, heute voller Risse und längst in der Ecke vergessen – steht Norwegen mit einem Demokratieindex von beeindruckenden 9,81 von 10 wie ein Leuchtturm der Stabilität in einem Sturm aus Populismus, Autokratie und TikTok-Verschwörungstheorien. Zum zwölften Mal in Folge belegt das Land Platz 1 im Democracy Index der Economist Intelligence Unit.
Der Democracy Index ist eine Art politisches Thermometer für den Zustand der Demokratie weltweit. Bewertet werden unter anderem Wahlprozesse, bürgerliche Freiheiten, politische Teilhabe und Kultur. Und Norwegen? Hat in fast allen Kategorien Bestnoten – als hätte man die Checkliste demokratischer Ideale einfach Punkt für Punkt abgearbeitet.
Statt lautstarker Skandale oder verfassungsrechtlicher Dauerkrisen gibt es in Norwegen ruhige Regierungswechsel, transparente Entscheidungsprozesse und eine Bürgerbeteiligung, die man fast als staatsbürgerliches Selbstverständnis bezeichnen kann. Klingt langweilig? Vielleicht. Funktioniert aber ausgezeichnet.
Wer gehört noch zum Club der Gelassenen?
Die Top 10 im Demokratie-Ranking 2024 lesen sich wie eine Einladung zu einem Treffen skandinavischer Konsensliebhaber mit Neuseeland als Ehrengast und Taiwan als Beweis dafür, dass Demokratie auch unter Druck gedeihen kann:
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Norwegen – 9,81
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Neuseeland – 9,61
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Island – 9,45
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Schweden – 9,39
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Finnland – 9,30
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Dänemark – 9,28
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Irland – 9,19
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Schweiz – 9,14
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Niederlande – 9,00
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Taiwan – 8,92
Fast alle dieser Länder eint ein ähnliches Fundament: ein funktionierendes Wahlsystem, wenig Korruption, hohe Bildung, freie Presse und das vielleicht Wichtigste – eine politische Kultur, die nicht auf maximalen Gegensatz, sondern auf bestmögliche Lösung setzt. Man diskutiert, ja – aber konstruktiv. Nicht jeder Disput wird zur ideologischen Endschlacht.
Dass ausgerechnet Taiwan in dieser Liste auftaucht, ist dabei mehr als eine Fußnote. Es zeigt, dass demokratische Qualität nicht nur mit geografischer Lage oder Wirtschaftskraft zusammenhängt, sondern mit politischem Willen und gesellschaftlicher Reife.
Deutschland, wir können es besser: Verbesserungspotenzial
Deutschland landet mit einem Score von 8,73 auf Platz 13 – das ist beachtlich, aber eben kein Spitzenplatz. Und doch: Wir gehören laut Index zu den sogenannten „vollständigen Demokratien“, was uns von einem Großteil der Welt klar abhebt. Das Wahlsystem funktioniert, die Gewaltenteilung steht, Medien arbeiten unabhängig, und Protest ist nicht nur erlaubt, sondern verfassungsrechtlich geschützt.
Doch die Detailanalyse zeigt: Vor allem bei politischer Kultur und Effizienz der Regierungsarbeit gibt es Luft nach oben. Vertrauen in Parteien, zunehmende Politikverdrossenheit und eine gewisse institutionelle Trägheit bremsen das Idealbild. Wir sind die gut geölte Maschine, die manchmal etwas zu sehr auf ihre Gebrauchsanweisung vertraut – statt sie zu hinterfragen oder weiterzuentwickeln.
Deutschland ist demokratisch stabil – keine Frage. Aber so richtig begeistert wirkt die Bevölkerung oft nicht. Zu viel Verwaltung, zu wenig Vision. Zu viel Talkshow, zu wenig Entscheidung. Die Demokratie ist da – aber manchmal fühlt sie sich ein bisschen nach Pflichtveranstaltung an.
Türkei: Demokratie auf der Rasierklinge
Die Türkei – einst eine Hoffnungsträgerin für den demokratischen Wandel zwischen Europa und Asien – steht heute an einem Punkt, der eher an eine fragile Balance auf der Rasierklinge erinnert. Mit Platz 111 im Democracy Index 2024 und einem Score von knapp 3,7 wird das Land unter Recep Tayyip Erdoğan als „autoritäres Regime“ eingestuft. Verfassungsrechte werden immer wieder ausgehöhlt, Medienfreiheit ist stark eingeschränkt, und die politische Macht konzentriert sich zunehmend in den Händen weniger. Statt demokratischem Fortschritt gibt es Rückschritte, die das Bild eines Landes zeichnen, das mit seinen eigenen demokratischen Ansprüchen ringt – zwischen ambitionierten Reformversprechen und harter Realität.
Bestes türkisches Catering
USA: Demokratie à la Daisy´s Diner.
Die Vereinigten Staaten – einst das große Vorbild, der Gralshüter der westlichen Demokratie. Heute? Mehr das politische Äquivalent zu einem Diner an der Route 66: Auf der Speisekarte stehen noch dieselben Klassiker wie eh und je, aber die Polster reißen auf, die Neonlichter flackern – und hinterm Tresen streiten sich Bedienung und Küchenchef darüber, ob überhaupt noch geöffnet werden soll.
Die Vereinigten Staaten wirken zunehmend uneinig – mehr Brennpunkt als Leuchtturm. Nicht mehr das demokratische Vorbild, sondern oft ihr eigener Widerspruch. Im Democracy Index 2024 reicht es nur noch für Platz 29, mit einem Score von 7,85 – „fehlerhafte Demokratie“, lautet das ernüchternde Urteil. Ein Prädikat, das sich schwer patriotisch vermarkten lässt.
Die politische Polarisierung lähmt das Land, das Wahlsystem ist durchzogen von strukturellen Verzerrungen, und das Vertrauen in Institutionen ist auf dem Tiefpunkt. Zwischen identitätspolitischer Überhitzung und medialer Dauerempörung bleibt kaum Raum für nüchterne, demokratische Selbstvergewisserung. Statt Debatte: Dauerfeuer. Statt Kompromiss: Stellungskrieg.
Dass ausgerechnet ein Präsident mit deutschen Wurzeln - Donald Trump - zum nationalen Aushängeschild wurde – und dann ausgerechnet mit Rhetorik gegen Migranten, Minderheiten und Multilateralismus punktet – macht die Lage nicht tragischer, aber absurder. Ein Sohn von Einwanderern, der gegen Einwanderung hetzt. Eine Demokratie, die sich im Namen der Freiheit selbst blockiert.
Man stelle sich vor: Die Hauptbeschäftigung eines der mächtigsten Männer der Welt besteht mittlerweile darin, Veröffentlichungen zu verhindern, die ihn mit einem mutmaßlichen pädophilen Ring in Verbindung bringen – eine schwere Anschuldigung, die in den Medien breit diskutiert, aber juristisch noch nicht abschließend geklärt ist.
Die USA bleiben global bedeutend, doch ihre Rolle als demokratisches Vorbild hat deutliche Kratzer bekommen.
Rückgang mit Ausnahmen
Der weltweite Durchschnitt im Democracy Index liegt aktuell bei 5,17 Punkten – der niedrigste Stand seit Beginn der Erhebung 2006. Nur rund 6,6 % der Weltbevölkerung leben in einer „vollständigen Demokratie“. Das ist so ernüchternd wie eindeutig.
Viele Länder, die einst auf einem guten Weg waren, sind in die Kategorie „hybride Regime“ oder sogar „autoritäre Systeme“ abgerutscht. Die Gründe reichen von politischen Umstürzen und schwachen Institutionen bis hin zu bewusster Demontage demokratischer Strukturen durch die jeweilige Regierung.
Die gute Nachricht: In einigen Regionen – vor allem in Westeuropa und Ostasien – hält sich die Demokratie nicht nur wacker, sie verbessert sich sogar. Länder wie Irland, Luxemburg oder Südkorea legen zu. Das zeigt: Rückschritt ist kein Naturgesetz. Aber Fortschritt braucht Arbeit.
Was Norwegen besser macht
Was also macht ein Land wie Norwegen so erfolgreich? Es ist nicht nur die berühmte politische Neutralität oder die geringe Bevölkerungszahl. Es ist ein Gesamtpaket aus funktionierenden Institutionen, gelebter Transparenz, flachen Hierarchien und einer politischen Bildung, die bereits in der Schule beginnt.
Hinzu kommt eine tiefe gesellschaftliche Überzeugung, dass Demokratie nichts Abstraktes ist, sondern Alltag. Das bedeutet: Verantwortung übernehmen, zuhören, mitgestalten. In Norwegen ist Demokratie kein Sonntagswort – sie ist Teil des sozialen Selbstverständnisses.
Es hilft natürlich auch, wenn politische Skandale im schlimmsten Fall beinhalten, dass ein Ministerium das Budget für eine neue Fahrradstraße zu optimistisch angesetzt hat.
Ein kurzer Blick nach vorn
Demokratie ist kein Zustand, sondern ein ewiger Prozess. Ein System, das immer wieder überprüft, gestützt und erneuert werden muss. Und vielleicht braucht es dafür nicht mal ein großes politisches Pathos, sondern einfach mehr Ehrlichkeit, mehr Transparenz – und die Bereitschaft, nicht jede Debatte als Kampf, sondern als Möglichkeit zu sehen.
Eine Welt, in der demokratische Qualität genauso selbstverständlich diskutiert wird wie Restaurantbewertungen. In der man nicht nur fragt, wer regiert – sondern wie. Vielleicht wäre das ein Fortschritt: wenn uns die Qualität politischer Führung so sehr interessiert wie die Konsistenz eines guten Espressos.
Norwegen zeigt, wie’s geht. Der Rest der Welt? Muss sich entscheiden, ob sie zuschaut – oder nachzieht.
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