BIO – DIE GROSSE ILLUSION? Von saurem Regen, Tschernobyl und der Illusion vom reinen Apfel

Ich war Schüler, als Tschernobyl passierte. Plötzlich hieß es: „Nicht in den Sandkasten! Kein Spinat, keine Pilze! Und bloß nicht im Regen spielen!“ – Saurer Regen, wohlgemerkt. Damals dachten wir Kinder, der sei wirklich sauer – wie Essig oder Zitrone. Was er allerdings war: ein ziemlich gutes Symbol dafür, dass selbst der Himmel nicht mehr sauber ist. Und spätestens seitdem frage ich mich: Wie soll in so einer Welt noch irgendetwas wirklich „unbelastet“ sein?
Heute, Jahrzehnte später, stehen wir im Supermarkt, greifen zu einem Apfel mit Biosiegel und hoffen: Wenigstens dieser eine ist noch rein. Natur pur, wie bei Schneewittchen – nur ohne Hexe. Aber ist das realistisch? Oder ist Bio längst ein modernes Märchen im grünen Gewand?
Die Bio-Verheißung – eine grüne Insel im Pestizid-Ozean?
Zugegeben: Das Bio-Siegel ist kein Heiligenschein. Aber es ist immerhin sowas wie ein moralischer Kompass im Labyrinth aus Spritzmitteln, Gentechnik und Monokultur. „Ohne synthetische Pestizide, keine chemischen Dünger, kein Glyphosat“ – klingt gut, oder? Ist es auch.
Aber selbst das beste Bio-Feld kann sich nicht gegen das wehren, was von oben kommt. Oder von nebenan. Pestizide aus der Luft, Mikroplastik im Boden, Schwermetalle im Wasser – Umweltverschmutzung ist wie WLAN: Unsichtbar, flächendeckend und manchmal ziemlich toxisch.
Trotzdem ist Bio nicht einfach nur „gut gemeint“. Studien zeigen: Es macht einen Unterschied. Und zwar einen riesigen.
Der Faktencheck – Bio unter der Lupe
Laut dem Ökomonitoring Baden-Württemberg ist konventionelles Obst und Gemüse bis zu 200-mal stärker mit Pestizidrückständen belastet als seine biologischen Pendants. In Zahlen: 76 % der Bio-Proben waren komplett rückstandsfrei – bei konventionellem Gemüse waren es mickrige 9 %.
Die Stiftung Warentest fand 2015 heraus: 85 % der Bio-Proben waren pestizidfrei, bei konventioneller Ware nur 21 %. Auch die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA bestätigte: Nur 14 % der Bio-Lebensmittel enthielten Rückstände – bei konventionellen waren es satte 47 %.
Klingt alles ziemlich überzeugend. Und doch: „Unbelastet“? Nicht ganz.
Denn selbst Bio-Äpfel können Spuren von Dingen enthalten, die kein Mensch auf der Zutatenliste sehen will. Warum? Weil unsere Welt inzwischen ein globales Chemielabor ist.
Fracking, Fallout und fliegende Gifte – die unsichtbare Verbindung
Bio kann auf regionalem Level gut funktionieren – aber was, wenn das Problem global ist? Fracking zum Beispiel – dieses unsägliche Erdgas-Gewinne-durch-Gestein-Aufbrechen-Ding, das in den USA wie ein Comeback alter Actionfilme mit dem Titel „Tödliches Grundwasser II“ betrieben wird.
Mittels Chemiecocktails wird das Gestein aufgebrochen, das Gas befreit – und die Umwelt verseucht. Wasserquellen werden kontaminiert, Methan entweicht in die Luft, und als Bonus gibt’s hin und wieder ein kleines Erdbeben.

Die USA exportieren inzwischen nicht nur Gas, sondern auch das Fracking-Modell. Und während sie das tun, verteilen sich die Nebenwirkungen über den gesamten Globus – atmosphärisch, politisch, ökologisch. Wer glaubt, dass sich ein ökologischer Fußabdruck an der Landesgrenze auflöst, glaubt auch, dass Einwegplastik sich in Luft auflöst.
Und genau da liegt das Dilemma: Selbst wenn du regional, saisonal, bio und mit gutem Karma einkaufst – du lebst in einer Welt, in der der Fallout von Tschernobyl noch immer in manchen Wildpilzen nachweisbar ist. In der Mikroplastik in der Arktis liegt. Und in der es sauren Regen gibt, der nicht mal gut zu Pommes schmeckt.
Bio bleibt wichtig – aber es ist kein Schutzschild
Die Wahrheit ist unbequem: Es gibt keinen Ort mehr auf dieser Erde, der komplett unbelastet ist. Kein Wasser, kein Boden, keine Luft. Die Welt ist rund – das wissen wir spätestens seit Magellan. Aber wir vergessen oft, dass das auch heißt: Alles hängt zusammen. Und jeder Mist, den wir irgendwo rauslassen, kommt irgendwann zurück.
Trotzdem: Bio bleibt der Versuch, das Richtige zu tun. Der Versuch, mit der Natur statt gegen sie zu wirtschaften. Und das ist viel wert. Denn auch wenn der Bio-Apfel nicht perfekt ist, ist er der bessere Apfel.
Noch besser: Wer zusätzlich auf Labels wie Demeter, Bioland oder Naturland achtet, bekommt strengere Standards, mehr Transparenz, mehr Nachhaltigkeit.
Und am besten: Wer dazu noch saisonal isst, regional kauft und öfter selbst kocht, ist schon ziemlich nah dran an einer neuen, besseren Esskultur.
Und jetzt?
Vielleicht ist der Gedanke, dass wir jemals „rein“ konsumieren könnten, tatsächlich naiv. Aber vielleicht ist genau das die schönste Form von Trotz: in einer verdreckten Welt trotzdem sauber zu arbeiten.
Vielleicht ist Bio nicht die Rettung, aber ein Anfang. Ein bewusster Schritt – mit Schale, mit Würde und mit einem Augenzwinkern.